VIRTUOSITÄT, GELEHRTHEIT UND EIN WENIG TEUFELEI
  
 

Die Entstehung der Goldberg-Variationen verdanken wir der SchIaflosigkeit des Grafen von Keyserling, des damaligen russischen Gesandten am sächsischen Hof. Johann Sebastian Bach komponierte sie im Jahre 1741, und ein Jahr später erschien in Nümberg die erste Druckausgabe unter dem Titel Aria mit verschiedenen (30) Veränderungen und mit genauen Angaben zu dem Instrument, für das sie bestimmt sind: “vors Clavicimbal mit 2 Manualen”. Nur bei drei der dreißig Variationen gibt: es keine Vorgaben in Bezug auf die Wahl des Registers.

Auf der Suche nach Ablenkung von seiner quälenden Schlaflosigkeit bittet der Graf Bach um eine neue Komposition (ein genialer Vorwand, falls es einer ist): Nur die Musik könne der Not des Gesandten Linderung verschaffen. Bach nimmt den Auftrag an - wenn die Geschichte so stimmt - und scheint der Eigenartigkeit der Aufgabe entsprechen zu wollen. Das Werk nimmt nämlich seinen Ausgang in einem zellenartigen Motiv, das in der Folge auf beharrliche und obsessive Weise eine dreißigfache Abwandlung erfährt: ein zauberisches EinIullen, ein in veränderter Form immer wiederkehrendes Rufen.

Alles ist sprühende Genialität, bis zur letzten Variation, einem Quodlibet (wörtlich: was beliebt), also einem frelen Gesang mil zwei Volksliedern: Ich bin so lang nicht bei dir gewest und Kraut und Rüben haben mich vertrieben. Das mag scherzhaft und auch selbstironisch auf die Möglichkeit anspielen, dass sich der Hörer - und vielleicht auch der erste Auftraggeber - bis zurn Schluss des Stücks nicht mehr an das Anfangsthema erinnert (das abschließend noch einmal erklingt). Vielleicht weil das Ganze so ausladend und schwer ist (wie Kraut und Rüben eben).

Johann Gottlieb Goldberg (1727-1756), ein Schüler Bachs und Schützling von Keyserlings, soll das Werk in einem an das Zimmer des schlaflosen Adeligen grenzenden Raum gespielt haben. Die Variationen verdanken also dem ersten Interpreten ihre Bezeichnung und ihren definitiven Titel; Bach selber machte sie zum vierten Teil seiner Clavierübung.

Auch in diesem Werktreffen zwei Aspekte des Bachschen Schaffens aufeinander: Kunst und Handwerk, Didaktik und Kreativität. Der einleitenden Aria mit einem Bass in Chaconne-Art schließen sich in regelmäßiger Folge jeweils ein Tanzsatz, ein Eröffnungsstück von virtuosem Charakter und ein Kanon an.

Ordnung und Regellosigkeit... Wir wissen nicht, ob das Werk als Schlafmittel Wirkung zeigte; hingegen ist bekannt, dass es seit der Entstehung immer wieder Inspiration und Intelligenz der Interpreten herausgefordert hat.

Doch nun ist der Moment gekommen, etwas darüber zu erfahren, was den 30jährigen Pianisten Andrea Bacchetti aus Genua, der mit den Goldberg-Variationen seinen Gang durch die Bach-Werke fortsetzt, bewegt und was ihn motiviert.

Sprechen wir erst über die logistischen und die Produktionsbedingungen dieser Aufnahme. Hatte die Tatsache, dass Sie vor einer TV-Kamera spielen, einen Einfiuss auf lhr Spielverhalten?

Eher nicht. Nur am Anfang musste ich mich etwas daran gewöhnen. Doch schon nach wenigen Tàkten stelIte sich dank der mystischen Atmosphäre und der Wandfresken der Villa Marzotto in Trissino die Konzentration ein, die für Bach nötig ist; und das natürliche Tageslicht hat mir das schöne Gefühl vermittelt, hier zu Hause zu sein.

Bach war für Sie von Anfang an gewissermaßen ein Fixstern über lhrem Schaffenshorizont. Wie kamen Sie zu den , Goldberg-Variationen?

Schon seit vielen Jahren war es mein Wunsch, dieses Werk zu studieren. Einerseits reizte mich die technische Herausforderung, der sich der Interpret stellen muss, andererseits die komplexe Gedächtnisleistung, vor allem aber lockte mich das geistige Vergnügen, das einem das Werk bereitet. Ich habe bereits die gesamten Englischen und Französischen Suiten gespielt und richtete deshalb bei den Goldberg-Variationen ein besonderes Augenmerk auf die (wenigen) Tanzsätze innerhalb des Variationen-Zyklus. 

Mir wurde bald klar, dass ich es mit einem reinen Instrumentalwerk zu tun hatte, das sich durch eine große Virtuosität auszeichnet; es stammt im übrigen aus der Spätphase des Schaffens von Bach, entstand also viele Jahre nach den anderen SammIungen für Tasteninstrumente.

Was ist hier Didaktik, und wo geht es mehr um Kunst?

Ich glaube nicht, dass es zwischen beiden Bereichen einen Unterschied gibt. Ich habe nie daran gedacht, Inspiration von Technik überhaupt zu trennen, auch dann nicht, wenn ich etwa für die Prüfung im fünften Jahr am Konservatorium an den Etüden von Cerny arbeitete, und noch weniger bei Bach.

Was die Goldberg-Variationen betrifft, so denke ich, dass es sehr wohl didaktische Aspekte gibt, z.B. gilt es, einen großen Bogen zu spannen über alle dreißig Variationen, in deren Innerem wiederum andere Fähigkeiten geschult werden: Eiribildungskraft, Anschlagstechnik, polyphones Spiel.

Bach spricht - wie aus dem Titel hervorgeht - ausdrücklich von Variationen: Welche Redeutung hat dieser Begriff für Sie?

Der kann unter verschiedenen Aspekten betrachtet werden. Zurn einen geht es um die Komposition an sich, und da muss man nicht viele Worte verlieren. Es genügt, sich der unendlichen Fantasie und der Kunstfertigkeit von Bach bewusst zu werden. 

Dann gibt es die Aufforderung an den Interpreten, z.B. den AnschIag zu variieren, da öffnet sich eine ganze Welt, denn es ist zu berücksichtigen, dass bei der Ausführung von Bachschen Werken auf dem Klavier der Anschlagstechnik eine ganz bedeutende Rolle zukommt. Wieder ein anderer Aspekt betrifft die Variationen der Verzierungen, die eigentlich an sich schon Variationen darstellen und mir eine schöne Gelegenheit geben, meinen EinfälIen freien Lauf zu lassen - natürlich immer unter Berücksichtigung der barocken Aufführungspraxis. Dann gibt es Variationen in Bezug auf die verschiedenen Charaktere: ein sehr bedeutender Aspekt, wenn es darum geht, den Bogen zu spannen, von dem ich vorher gesprochen habe. 

Dadurch, dass die Variationen ganz unterschiedlich daher kommen, kann keine Langeweile entstehen, und dem Interpreten hilft das vor allem auch auf der Suche nach dem Wesen, das die Musik von Bach überhaupt ausmacht.

Wie löst man das Problem der beiden Manuale, deren Einsatz Bach genau vorschreibt, wenn man das Werk auf dem Klavier spielt?

Das ist in der Tat am Anfang nicht ganz einfach. Man muss sich beim Klavierspiel an zwei Prinzipien halten: die Tasten an zwei verschiedenen Stellen drúcken - als ob man zwei Manuale hätte -, und beim Überkreuzen soliten sich die beiden Hände nie berühren, sonst steigt die FehIerquote in Schwindel erregendem Maße.

Welche Eigenschaften sollte ein Klavier für Bach bzw. für die “Goldberg-Variationen” aufweisen?

Es müsste meiner Meinung nach einen äußerst weichen und leuchtenden Klang haben: In meinem Fall habe ich ein Instrument (der Marke Fazioli, Modelinummer F278) mit einem eher dunkien und gedämpften Klang ausgesucht, um in den “nächtlichen” Variationen (z.B. die 21. und die 25.) eine gewisse Introvertiertheit herstellen zu können. Im Übrigen verlangen die moderaten Tempi, die ich gewählt habe, eine möglichst vielfältige dynamische Abstufung. Und da ich häufig vom Pedal Gebrauch mache, muss dieses sehr fein zu steuem sein. lnsgesamt bin ich mit dem Faziolo-Flügel, der mir zur Verfügung gestelit worden ist, sehr zufrieden.

Die Arbelt mit der Klangdynamik ist für lhre Interpretation ganz typisch: Welche Effekte und Affekte müchten Sie damit erzeugen?

Eigentlich bin ich nicht auf der Suche nach Effekten. Es geht mir eher darum, die ganze Dynamik und alle Klangfarben, die ein modernes Instrument bietet, auszuschöpfen, um Charakteristiken und Leidenschaften auszudrücken, die dem kulturellen Kontext der Barockmusik entsprechen: ihre Asthetik, große malerische Räume, galante Hofgeselischaften, und, in vereinzelten Fällen wie der 25. Variation, auch ein wenig “nächtliche Teufelei”. 

All dies mit der ganzen Bescheidenheit und dem menschlichen Maß eines jungen Interpreten, der erst seit wenigen Jahren über die Welt nachdenkt und sich diese “ferne andere Welt” nur anhand von Gemälden, Kirchen und - warum nicht - dem Anhören von Musik auf alten Instrumenten vorstellen kann.

Variation Nr. 8: die brilianteste, eine Musik “für den Salon”? Und ist dies der vorherrschende Charakter in den “Goldberg-Variationen”, wie er sich in der Anfangs-Aria im französischen Stil zeigt?

Man muss die verschiedenen Variationen sehr gut auseinander halten, was ihren Stil betrifft. Da sind zum einen die nach Innen gerichteten, die poetischen, in denen sich die Persönlichkeit eines Interpreten, dem diese Art zu spielen eher liegt (wie das bei mir der Fall ist), ganz entfalten kann. So kann man mit dem Thema, der Gigue der 7. Variation, mit allen Kanons die “romantische Seele” J.S. Bachs erkunden, und, wie bei der Sarabande der 25. Variation, seine außergewöhnlich kühne Chromatik. Man mag an einigen Stellen “Salonmusik” heraushören, also vielleicht deutsche Höflinge am Anfang des 18. Jahrhunderts vor Augen haben, aber man sollte sich immer auch bewusst sein, dass wir es hier mit einem auserlesenen Geschmack und gekonnter Linienführung in der Musik zu tun haben. Und bei den ganz brillanten, auf feinste instrumentale Art ausgeführten Variationen, z.B. gerade die Nummer 8, die dem schlaflosen Grafen Erleichterung verschaffen sollten und wo die technischen Schwierigkeiten sich häufen, kann ich eigentlich keine solche Musik “für den Salon” erkennen. 

Alles solIte organisch miteinander verbunden werden, so dass sich die verschiedenen Elemente fantasievoll abwechseln, wie werm man die Steine eines großen Mosaiks zusammenfügt.

Wie haben Sie das Problem des Septimenkanons in der 21. Variation gelöst, wo Bach zu den Regístern keine Vorgaben macht?

Ich denke, Bach hat hier nur an ein Manual gedacht, auch werm die kühne Chromatik auch eine Annahme zufassen könnte. Harmonisch ist dies eine der schönsten Variationen, denn eine Arabeske in der rechten Hand verbindet sich mit einer absteigenden chromatischen Leiter in der linken, was eine ganz mystische Stimmung erzeugt, die im Gegensatz steht zu der vorangehenden brillanten Variation. Sie hat etwas Kosmisches; und bereitet die “Auferstehung” in der 22. Variation vor, ähnlich wie der Übergang von dem Kanon der 9. zu der Fughetta der 10. Variation.

Warum eigentlich gerade dreißig Variationen? Liegt in dieser Zahl eine symbolische Bedeutung?

Im 18. Jahrhundert, aber auch in anderen Epochen, war die Idee der Trinität von großer Wichtigkeit, und alles stand mit ihr in Verbindung. Übrigens war Bach Lutheraner. Dann gibt es die Dreizahl auch in der Abfolge der Variationen, wo nämlich jede dritte ein Kanon ist, mit der Nummer 15 als “Epizentrum”, einem überaus gespenstischen Moll-Kanon in der Quinte.

Gibt es in diesem weitläufigen und vielfältigen ZykIus einen Moment den Sie besonders schätzen?

Davon gibt es viele. Ich denke, ein Interpret hat verschiedene Arten der Liebe zu seiner Tätigkeit: Ich persönlich mag die virtuosen Variationen genauso wie die eher “besinnlichen”. Von den ersten möchte ich besonders die 1. und die 8. nennen, von den zweiten mag ich die 25. am meisten. Außerdem liegt mir sehr an der Klimax, die mit der 26. beginnt: das ist wie ein neuer Tag, wie die Auferstehung nach der Passion. Ein neues Leben heginnt, der Geist besiegt die Materie und triumphiert über das Leid der Welt, um sie nach einer Reise durch die 25 Variationen, in denen alles geschieht, zu läutern und unsterblich zu machen.

Soll der Blick eines jungen Interpreten noch ganz unvoreingenommen sein, oder ist es besser, gewisse Interpretationen, auf die man Bezug nimmt, vor Augen zu haben?

Natürlich gibt es verschiedene Interpretationen, die ich mir angehört und verinnerlicht habe, ohne sie jedoch kopieren zu wollen. Ich begegnete den Goldberg‑Variationen selbstverständlich mit der Aufnahme aus dem Jahre 1955 von Glenn Gould, dessen grandiose Technik ich immer bewundert habe, auch wenn er selber keine sehr ansteckende Art hat - man selle mir diese kritische Anmerkung nach! 

Im Jahre 2001 dann die zweite Version von András Schiff, die sich meiner Meinung nach von der ersten nur wenig unterscheidet, zumindest was die Anlage betrifft. Ich hörte sie im Konzert, sie ist ganz außergewöhnlich, vollendet im Klang - und das ohne Pedal! -, ich würde sagen überirdisch, mit einem ästhetisierenden Konzept. 

Dann ist Murray Perahia zu nennen, da geht es allerdings um eine CD-Aufnahme. Er ist nicht nur ein Tastenmeister, sondern auch ein Experte der Schenkerschen Theorien. Überaus interessant die Untersuchung darüber, wie aus einer Zelle, genauer: einem Intervall, eine Kathedrale hervorgehen kann. 

Eine andere Erfahrung war die letzte Interpretation von Rosalyn Tureck, die meinen Studien voranging. Vielleicht, hat sie mich am meisten beeinflusst: die moderaten Tempi, die extemporierten Verzierungen in den Ritornelli, ein mit einer wunderbaren jugendlichen Frische gepaarter Mystizismus. 

Schließlich höre ich mir auch Cembaloaufnahmen an. Die letzte, wunderbare Interpretation von Ottavio Dantone hat mich in den Goldberg-Variationen auch ein wenig Teufelei finden lassen.

 
 

(Übersetzung: Irene Weber-Froboese)
 

     
 

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